Schon vor einigen Wochen gab es auf Instagram Hinweise auf ein Schlagerformat des niedersächsischen Lokalsenders Radio 90vier. Was ich seinerzeit noch für einen Fake oder den Instagram-Account für eine neue Sendung hielt, ist seit Freitag Realität. Radio 90vier hat sein Musikformat zum 1. Juli, 0 Uhr, geändert und spielt seitdem anstelle eines Pop/Rock-Formats mit Titeln aus den vergangenen rund 40 Jahren nur noch deutsche Schlager.
Von Radio Roland als Mitbewerber mit ähnlicher Ausrichtung will sich Radio 90vier durch ein deutlich breiteres Format unterscheiden. Sind bei Radio Roland weitgehend nur Musiktitel aus den vergangenen 20 Jahren zu hören, so gibt es bei Radio 90vier auch Klassiker aus den 70er, 80er und 90er Jahren.
Sender-Darstellung vs. Hörermeinungen
Der Sender sagt in einer Pressemitteilung und auf Facebook: „Wir haben unsere Hörer befragt und heraus kam, dass in unserer Region die Musikrichtung ‚Schlager und Pop-Schlager‘ stark vermisst wird und überwiegend gerne gehört würde. Daher haben wir uns entschlossen, nach über drei Jahren, eine Anpassung unserer Musikrichtung vorzunehmen. Mit dem 1. Juli 2022 senden wir die Musik, die sich unsere Hörer wünschen, nämlich beste deutschsprachige Musik: Schlager, Pop-Schlager und Deutsch-Pop.“
Die Kommentare der Hörer, die sich auf Facebook zum Formatwechsel geäußert haben, sprechen überwiegend eine andere Sprache:
- „Schlager gibt’s schon genug! Bleibt bei eurer bisherigen Musik.“
- „Ich habe mich schon über den Schlager in eurem Programm gewundert. Leider bin ich dann jetzt auch weg. Dabei fand ich auch die regionalen Infos immer sehr schön. Ihr wart bislang mein Lieblingssender. Der Mix der Musik war sehr gut. Schlager geht höchstens zum Feiern und sonst gar nicht. Sehr schade!“
- „Schade! Bei Schlager bin ich raus. Komplett raus! Das geht gar nicht! Da wechsel ich dann zukünftig zu einem garantiert schlagerfreien Sender und vergebe Euren Speicherplatz neu.“
Manche Hörer loben zumindest den Mut der Radiomacher aus dem hohen Norden:
- „Wenn man sich ganz Deutschland anschaut gibt es eine riesige Anzahl an Privatradios, die kein einziges Mal im Jahr einen Schlager spielen. Von daher kann ich das nur gut finden als einer, der total die Gerechtigkeit liebt. Verstehe aber auch, dass es schwierig ist sich von einem Tag zum anderen um 180° zu drehen und die gleiche Anzahl an Hörer zu gewinnen, die man jetzt verliert.“
Formatwechsel ist großer Fehler
Ich halte den Formatwechsel für einen großen Fehler. Als Lokalradio muss man sich über die redaktionellen Inhalte von der Konkurrenz abheben, nicht durch die Musik. Das Format muss vielmehr darauf ausgelegt sein, möglichst viele Hörer anzusprechen – wenn schon die Reichweite technisch bedingt vergleichsweise klein ist.
Selbst in einer Großstadt wie München hat ein lokales Schlagerformat, wie es Radio Arabella vor 30 Jahren anbot, nicht auf Dauer funktioniert. In Berlin hat Spreeradio sein früheres Schlagerprogramm ebenfalls zugunsten von Classic Hits aufgegeben. Es ist kaum zu erwarten, dass Radio 90vier in einem deutlich kleineren Markt mit diesem Format erfolgreich sein wird.
Es gehört schon ein gewisser Mut dazu, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten von heute auf morgen fast alle bisherigen Hörer aufzugeben und möglicherweise auch Werbekunden zu verprellen. Ob und in welchem Umfang sich eine neue Hörerschaft aufbauen lässt, wird die Zukunft zeigen. Ob die Werbeindustrie die Geduld aufbringen wird, diesen Schritt mitzutragen, darf zumindest angezweifelt werden. Wer Radiowerbung macht, möchte wissen, wie viele Hörer er mit seinen Spots erreicht. Platz für solche Format-Experimente gibt es da eigentlich nicht.